Eichendorff

 

Joseph Freiherr von Eichendorff, „Wünschelrute“





„Schläft ein Lied in allen Dingen,

Die da träumen fort und fort,

Und die Welt hebt an zu singen,

Triffst du nur das Zauberwort.“




Joseph Freiherr von Eichendorff, der 1788 auf Schloss Lubowitz in Oberschlesien geboren wurde und 1857 in Neiße starb, gilt als der bedeutendste Dichter der deutschen Hochromantik. Vor allem in seinen Gedichten, die zahlreiche Vertonungen erfahren haben, lebt er bis heute fort. Eines seiner bekanntesten, das hier analysiert und interpretiert werden soll, trägt den Titel „Wünschelrute“. Der aber stammt nicht vom Dichter selber, sondern wurde beim Erscheinen des Gedichts im Jahr 1838 von Adalbert von Chamisso über die vier Zeilen gesetzt. Eine Wünschelrute ist ein seit dem Mittelalter bis heute gebrauchtes, meist Y-förmiges Instrument aus Holz oder Metall, das in der Hand eines Rutengängers zum Aufspüren von Wasseradern, Metallen oder geologischen Verwerfungen im Erdreich dient. Warum Chamisso diese Überschrift über das 1835 entstandene Gedicht setzte, will die folgende Interpretation herausfinden.


Das einstrophige Gedicht besteht aus vier in einem vierhebigen Trochäus gehaltenen Versen, wobei sich Vers 1 und Vers 3, und Vers 2 und Vers 4 nach dem Schema eines Kreuzreims (a b a b) reimen. Die Verse 1 und 3 enden weiblich bzw. unbetont, die Verse 2 und 4 männlich bzw. betont. Hinsichtlich des Satzbaus lässt sich sagen, dass der Text aus zwei mit der Konjunktion „und“ verbundenen Satzgefügen besteht, wobei auf den kurzen Aussagesatz des ersten Verses, der wegen der leicht zu ergänzenden Auslassung des sächlichen Personalpronomens „es“ fast apodiktisch wirkt, im zweiten Vers ein Relativsatz folgt, der sich auf die unablässig träumende Gesamtheit der „aller Dinge“ bezieht. Nach dem zweiten Hauptsatz im dritten Vers , der besagt, dass die Welt zu singen anfängt, beschließt im vierten Vers ein realer Bedingungssatz das Gedicht, in dem die Voraussetzung für dieses Singen benannt wird. Wegen der Inversion von Subjekt und Verb kann dabei auf die bedingende Subjunktion „wenn“ verzichtet werden. Auch in dieser zweiten Hypotaxe kommt durch die Betonung des letzten Wortes eine Bestimmtheit zum Ausdruck, die keinen Zweifel an der Richtigkeit der darin getroffenen Behauptung zu dulden scheint. Die ganze Strophe wirkt klar umrissen und wie in ein hartes Licht getaucht. Die beiden rhetorisch überlegt gestalteten Satzgefüge klingen bestimmt, beinahe thesenhaft. Ihr Inhalt ließe sich in Prosa folgendermaßen paraphrasieren:


Alles, was existiert, ist in einem andauernden Traum befangen, hat jedoch gleichzeitig die potentielle Fähigkeit, aus dem Schlaf zu erwachen und sich in Form eines Liedes zu äußern, wenn ein „Du“ die Zauberformel ausspricht, die zur Erweckung der schlafenden, träumenden und zum Gesang befähigten Welt dient. Kennt und spricht das „Du“ diesen Zauberspruch , bringt es damit „die Welt“ zum Singen.


Schaut der aufmerksame Leser freilich genauer auf diese Sätze, gibt ein Blick hinter ihre festgefügte Fassade hinreichend Anlass zu Fragen, die zu beantworten schwieriger ist, als er auf den ersten Anblick gedacht hat. Das liegt vor allem an den drei aufeinanderfolgenden Metaphern der Strophe, die alle drei jeweils in Form einer Personifikation auftreten:

  • Ein Lied schläft in allen Dingen.

  • Die Dinge, die mit dem Begriff „Welt“ zusammengefasst werden, träumen unaufhörlich.

  • Die Welt als Gesamtheit der träumenden und zum Singen befähigten Dinge realisiert in dem Moment ihren Gesang, in welchem ein Mensch den dazu notwendigen Weckruf kennt und ausspricht.


Wie lässt sich nun der Begriffsgehalt dieser drei das Gedicht konstituierenden Metaphern fassen?

Was bedeutet die Aussage, die Dinge bzw. die Welt träumten unaufhörlich? Worin besteht der Gesang der erweckten Dinge und wie lautet das die Welt zum Singen erweckende „Zauberwort“ ? Wer ist schließlich das „Du“?


Um auf diese Fragen überzeugende Antworten zu finden, ist es unumgänglich, sich zunächst das Welt- und Menschenbild, wie es in der Literatur der Romantik zum Ausdruck kommt, zu vergegenwärtigen.


Die Werke der Klassik, die der Romantik vorausgeht und den Höhepunkt des deutschen Idealismus bildet, streben nach Harmonie, Vollendung und nach Verkörperung des Wahren, Guten und Schönen in einer strengen Form, in der Maß und Ordnung herrschen. Diese Form orientiert sich an Regeln, welche vom Kunstideal der Antike abgeleitet sind. Die Vertreter der Klassik versuchen, Natur und Kunst in Einklang zu bringen. Dabei wird die Natur nicht mystisch erlebt, sondern zum Gegenstand sinnlicher und allgemeingültiger Erfahrung gemacht. Das private Ich ist gehalten, seine eigenen Ansprüche mit den Forderungen der Welt und der Gesellschaft in Einklang zu bringen.


In der Romantik hingegen, der letzten Phase des deutschen Idealismus, macht das Subjekt mehr und mehr seine eigenen Ansprüche geltend, wodurch es in zunehmenden Maße in einen Widerspruch zur Gesellschaft und deren Normen gerät, was nicht zuletzt auch der in Deutschland herrschenden politischen Lage geschuldet ist. Das unterschwellig oder offen zum Ausdruck gebrachte Streben nach einer Neugestaltung der gesellschaftlichen Ordnung und letztlich nach Gründung eines deutschen Nationalstaates bleibt nicht ohne Auswirkungen auf weite Teile der Bevölkerung, die in ihren Reformbestrebungen naturgemäß auf Ablehnung und später sogar auf Unterdrückung seitens der in ihrer Macht sich bedroht fühlenden herrschenden Klasse stoßen und sich frustriert ins Private zurückziehen oder, was vor allem die Künstler und Literaten betrifft, sich in nicht bzw. nicht mehr existierende Welten wie beispielsweise in die Welt des Mittelalters hineinträumen, weil sie in ihnen das Ideal eines geeinten Volkes erblicken. Nicht zuletzt auch deswegen werden die strengen Formen der Klassik, die viele Romantiker als überkommene Ausdrucksformen des Feudalsystems wahrnehmen, in Frage gestellt oder unterlaufen. Der in der Klassik immer noch spürbar dominierende Einfluss des Rationalismus der Aufklärung weicht, wie schon einmal in der Epoche des Sturm und Drang, dem Gefühl und all seinen Manifestationen, wobei, wie damals schon, auch diesmal wieder die Repression seitens des Adels zu fürchten ist. Das Traumhafte, Geheimnisvolle, Zauberhafte, Mystische,wie es sich im Märchen, im Volkslied und nicht zuletzt auch in religiösen Texten manifestiert, gewinnt, da politisch unverfänglich, die Oberhand. Die Realität verschwimmt oder tritt in den Hintergrund, Phantasie und Emotionen treten an die Stelle der Rationalität und der Realität. Die geltenden strengen Gattungsunterschiede werden aufgeweicht oder verwischt. An ihre Stelle tritt das Ideal einer „Universalpoesie“ (F.Schlegel). Statt zu zeigen, wie die ideale Welt beschaffen sein soll, was die Zielsetzung der Klassik war, träumen sich die Romantiker in imaginierte vergangene Welten oder fremde Kulturen. Sie erkunden unbekannte Welten der Psyche, spüren Verirrungen des Geistes nach und wagen bisweilen einen Blick in skurrile, abartige und gefährliche Regionen, in denen Individuen nicht selten sogar dem Wahnsinn verfallen. Das Irreale, der Traum, die Vision, oft sogar die Halluzination treten an die Stelle des Realen, Beweisbaren, Berechenbaren, was letztlich dazu führt, dass in einem dialektischen Prozess das Irreale antithetisch in einen neuen Realismus umschlägt und die Epochen des Biedermeier, des Jungen Deutschland und des poetischen Realismus eingeläutet werden.


Genau zum Augenblick dieses sich anbahnenden Umschlags, der besonders in den frühen Gedichten Heines spürbar wird, entsteht 1835 Eichendorffs Gedicht. Es enthält gewissermaßen die Quintessenz der versinkenden oder zum Teil schon versunkenen Epoche der Romantik, aus deren Kenntnis heraus die oben gestellten Fragen an sein Gedicht „Wünschelrute“ beantwortet werden können. Dazu ist es allerdings unabdingbar, in einem zweiten Schritt einen Blick auf jene philosophische Richtung zu werfen, die mehr als alle anderen philosophischen Systeme die Epoche der Romantik beeinflusst: Die Transzendentalphilosophie Schellings! Schelling zufolge ist Gott nicht der Schöpfer, die Ursache des Alls, sondern das sich entfaltende und entwickelnde All selbst. (Die Verbindung zu Spinoza und dessen Definition Gottes, der, wie er zu beweisen versucht, identisch mit der Natur bzw. diese selbst ist, liegt auf der Hand!) Schelling versteht die Natur als unbewusst schöpferischen Geist. Die Tätigkeiten der lebendigen Urkraft der Natur sind demnach unbewusste Geistestätigkeiten! (Die Verbindung zur Eichendorffschen Formulierung von „allen Dingen,/ Die da träumen fort und fort,“ stellt sich wie von selber her.) Aus diesen fortgesetzten unbewussten Natur- bzw. Geistestätigkeiten entwickeln sich alle höheren Naturprodukte. Schluss und Abschluss dieses Entwicklungsprozesses ist das auf der höchsten Naturstufe, also im Menschen, erwachende Bewusstsein, in dem die Weltseele sich zum Objekt ihrer eigenen Anschauung macht, womit ein neuer, dem Naturprozess analoger Geistesprozess beginnt. Diese Menschwerdung, man könnte geradezu von einer Menschwerdung Gottes sprechen, ist demnach nichts anderes als die Entwicklung der Natur hin zum sich selbst reflektierenden Geist. Weil dieser Geist sich aus der Natur entwickelt hat und infolgedessen Teil der Urkraft der Natur ist, k e n n t er auch die Natur. Als ein solcher Kenner ist er nun befähigt, das Wesen der Natur mit einem „Zauberwort“ zu benennen, anders gesagt: schöpferisch tätig zu werden, zum Künstler zu werden und seine Kenntnis mittels einer von ihm geschaffenen Form zum Ausdruck zu bringen. Ein Künstler ist demgemäß der Mensch, der das Wesen der Natur, das ja auch sein eigenes ist, auf dem Weg über ein Kunstwerks auch für andere Menschen erkennbar und nachvollziehbar machen kann. So gesehen ist das Werk, das der Künstler gestaltet, nichts anderes als ein Erkenntnismittel, das eine Wesensschau der Welt ermöglicht. Dabei spielt es keine Rolle, ob das Kunstwerk ein sprachliches, ein musikalisches oder ein Werk der bildenden Kunst ist. Sobald es Einsicht gibt in das Wesen der Welt, sobald es Erkenntnis dessen verschafft, „was die Welt/ Im Innersten zusammenhält“ (Goethe,Faust I), und nur dann, handelt es sich um Kunst. Und das Kunstwerk steht als Erkenntnismittel gleichberechtigt neben jeder anderen Wissenschaft. Was es allerdings von den anderen Wissenschaften unterscheidet, ist seine ästhetische Komponente bzw. das, was im Gedicht Eichendorffs mit dem Verb „singen“ benannt wird: Die Welterkenntnis und deren Gestaltung durch Kunst vollzieht sich im Verbund mit der Schönheit. Das Erkennen der Welt und die Schönheit des Erkenntnismittels befriedigen, begeistern und beglücken gleichermaßen den Erkenntnis suchenden und erlangenden Menschen, da sie ihm seinen Platz und Stellenwert im Weltganzen aufzeigen und bewusst machen. Vor diesem Hintergrund ließe sich dann Eichendorffs „Credo“, wie es in seinem Vierzeiler in poetischer Form zum Ausdruck kommt, in prosaischer Form wie folgt formulieren:


  • Alles, was existiert, ist Eins; alles ist belebt; alles ist Potentialität, ist Werden und Vergehen.

  • Wir als Teil des Ganzen haben uns zur Individualität entwickelt, sind aber nach wie vor Bestandteil des Ganzen.

  • Mittels der Kunstwerke, die von besonders befähigten Individuen, von Künstlern also und nicht von jedermann, erschaffen werden, erlangen wir Einsicht in den Sinnzusammenhang des Ganzen und in unsere unauflösliche Einbindung in diesen Organismus.

  • Diese Einsicht, weil sie in „Schönheit“ gekleidet ist, beglückt, erfüllt und erhebt uns in gleichem Maße wie die Schönheit des Erkannten.


Dass Eichendorffs Gedicht in vier kurzen Versen von großer sprachlicher Schönheit und Geschlossenheit all das zum Ausdruck zu bringen vermag, zeigt, was Kunst zu leisten im Stande ist.


Georg Apfel

 

 

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